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Race Across Germany 2025

  • Autorenbild: Michaela Sailer
    Michaela Sailer
  • vor 1 Tag
  • 6 Min. Lesezeit

Jeder Finisher erhält ein Trikot und eine Medaille. Außerdem gibt es das berühmte Finisher Photo!
Jeder Finisher erhält ein Trikot und eine Medaille. Außerdem gibt es das berühmte Finisher Photo!

Einen halben Tag vor dem Start in einer unbekannten Kleinstadt herumzulungern, ist keine schlechte Idee. Nach acht Stunden Nichtstun will man nur noch Eines: Endlich in die Pedale treten.


Der knapp radlange Startkanal in der Ecke einer Aral-Tankstelle: Je ein Absperrgitter rechts und links, zwei sonnengelbe Beachflags mit der Aufschrift »Start«. Die zwei handvoll StarterInnen werden nach und nach in den Startkanal gebeten. Kurze Plauderei mit dem Renndirektor Dieter, der dann von Fünf herunterzählt und einen losschickt.


Zu zweit in die Nacht hinein.

Ich verlasse den Startkanal um 20:04. Mein Ehemann, Sven, darf mir um 20:14 folgen – und zusehen, dass er sie einholt. Nach dem Start geht es gleich einmal bergauf. Schreck für Sven nach zwei Kilometern: Blaulicht am Straßenrand. Er hält kurz an um sich sagen zu lassen, dass es hier nicht um mich geht.


Ich genieße es, tagsüber auf dem Rennrad dahinzufliegen, Wind und Sonne im Gesicht. Genauso schön: Allein in der Dämmerung auf fremdem Asphalt dahinzurollen. Wie eine Perle auf einer Kette, die von den weiteren Perlen auf dieser Kette weiß – auch wenn sie die kaum kennt. Und sich die Abstände und Reihenfolge der Perlen auf der Kette noch magisch ändern werden.


Schon überholt mich eine der schnellen Perlen. Man grüßt sich, plaudert kurz und wünscht gute Fahrt. Das Begleitfahrzeug des Solo Supported-Fahrers überholt mich kurz darauf. Dann gehört die Stille der blauen Stunde wieder mir.


Wo ist denn meine Perle abgeblieben? Wann wird er wieder bei mir sein? Ich halte zur ersten Pinkelpause und plötzlich steht meine Perle auch schon neben mir. Ich bin froh, dass ich nicht mehr alleine bin, wobei das auch seinen Reiz hatte. Pinkelpausen wird es noch zahlreiche geben in dieser Nacht. Ein gutes Zeichen, weil der Motor dann auch Körperfett verbrennt. Dabei entstehen Kohlendioxid und Wasser. Das eine wird ausgeatmet, das andere ausgeschieden.


Weiter geht es also zu zweit in die Nacht hinein. In der Tiefe des Dunkels am Straßenrand zirpen Grillen. Eine laue Sommernacht ist das aber nicht. Auf den Anstiegen schwitzen wir uns warm, in den Abfahrten schlottern wir bei gerade mal sieben Grad Celsius. Im Herbst/Winter fahren wir bei solchen Temperaturen mit der Winterausrüstung – die wir jetzt natürlich nicht im Gepäck haben. Wir ziehen fast alles an, was wir dabeihaben.


Der einzige Leuchtturm in der Nacht: Die Tankstelle in Eisenach, gut 50 Kilometer nach dem Start. Der Tankwart räumt schon zusammen, einen wärmenden Kaffee gibt es nicht mehr. Also füllen wir Wasser nach. Smalltalk mit einer Perle aus Krefeld, die mit uns noch einige Male die Position auf der Kette wechseln wird. Ein Autofahrer erweist uns seinen Respekt, nachdem er erfahren hat, was wir Drei von der Tankstelle heute Nacht noch vorhaben.


Wir überwinden das erste Tief.

Die Nachtschicht beginnt, wir finden in unsere Routinen und spulen die Strecke ab. Kurbeln, Schalten, Bremsen – was tagsüber nach Gefühl und auf Sicht geht, ist jetzt ein Blindflug. Der Blick aufs Navi hilft, lässt ahnen, in welche Kurve sich die Straße legen wird. Und hier im Navi werden auch die Kilometer verwaltet, die zusammen mit dem stündlichen Schnitt zu kleinen Rechenaufgaben verführen. Es gibt ja sonst nicht viel mehr zu tun, als Kohlenhydrate nachzuschieben, zu trinken und die Beleuchtung zu checken.


Wir rollen durch schlafende Dörfer und lassen unsere Rückläufe rasseln. Nehmen den Hintern aus dem Sattel, damit das Sitzpolster der Radhose wieder etwas Volumen zurückgewinnt. Pinkelpausen sind ideal, um dem Allerwertesten etwas Gutes zu tun oder gar Schlimmeres zu verhindern. Dann schlägt die Stunde der Chamois-Creme, die der reibungsvollen Beziehung von Haut und Radhose Linderung verschafft. Nach kurzen Pausen am Straßenrand klinken wir uns wieder in die nächtliche Einsamkeit der Landstraße ein.


Da wir als Einzelstarter nicht im Windschatten des Anderen hängen dürfen (mindestens zwölf Meter Abstand), stellt der Vordere mit einer Trillerpfeife hin und wieder die Frage »Bist du noch da?« und wartet auf den Antwortpfiff.


In der Mitte der durchwachten Nacht kommt der erwartete tote Punkt. Wir überwinden das erste Tief mit der Vorfreude auf den Tagesanbruch, Kaffee und Frühstück. Die Nachtschicht war produktiv und wir überraschen uns selbst: Noch vor 7 Uhr liegen bereits über 200 Kilometer hinter uns. An einer Tankstelle gibt es Käsebrötchen und wir kaufen Wasser. Danach gibt es gegenüber bei McDonald’s den besseren Kaffee, Muffin, Apfeltasche – und eine Toilette. Am Tisch können wir auch besser die Trinkblasen und -flaschen füllen. Wir öffnen Plastiktütchen mit weißem Pulver, das wir in die Flaschen rieseln lassen. Ohne aufzuschauen, sind wir amüsiert, weil die Leute um uns herum bei diesem Arbeitschritt immer wieder irritiert schauen und garantiert das Falsche denken.


Nun beginnt das Tagwerk. Die Hoffnung auf Sonnenwärme schwindet bald: Es beginnt zu winden, immerhin aus der optimalen Richtung für Radfahrer. Unterwegs gesellt sich Regen dazu, zwingt uns in die volle Montur mit Regenjacke und -hose. Das bricht den Stolz des windschnittig gekleideten Rennradfahrers – jetzt fühlt er sich wie ein Radwanderer.


Auch Hagel ist dabei.

Das Ende des ersten GPS-Tracks rückt näher, dann sind 325 Kilometer geschafft. Doch 20 Kilometer vor dem ersten und einzigen Check-Point auf der Strecke werden wir durch die Mental-Mangel gedreht: Wir stehen plötzlich im Stau. Unsere alte schmale Landstraße muss für eine Umleitung herhalten. Als der Verkehr einigermaßen fliesst, bedeutet das für uns: Hunderte von Autofahrern überholen uns und wir stehen jedes einzelne Mal im Mittelpunkt ihrer mal mehr, mal weniger waghalsigen Manöver – Auge in Auge mit dem dichten Gegenverkehr.


Kurz nach 15 Uhr erreichen wir Wilsdruff. Hier endet der erste GPS-Track und wir müssen die vereinbarte Nachricht für die Rennleitung absetzen. 325 Kilometer – unsere bisher längste Ausfahrt an einem Stück. Wir gönnen uns eine etwas längere Pause. Es gibt warmes Essen, asiatisch. Wir füllen die Trinkflaschen, laden den zweiten GPS-Track und fangen damit wortwörtlich wieder von Neuem an: Null Kilometer zeigt das Navi bei der zurückgelegten Distanz an. 131 frisch servierte Kilometer to go.


Wir passieren die Anflugschneise des Flughafens Leipzig, wo ein Lufthansa-Jet über unseren Köpfen geradezu durchs Tor eines Regenbogens zur Landung ansetzt. So malerisch der Regenbogen schimmert: Immer wieder müssen wir durch Regengüsse, auch Hagel ist dabei. Die Regenklamotten ziehen wir schon gar nicht mehr aus.


Dann geht es über Radebeul in die Region um Dresden. Renndirektor Dieter meinte beim Start, wir würden an ihn denken, denn dort gäbe es noch einige Höhenmeter zu absolvieren, man könne so eine Strecke »ja auch nicht einfach flachbügeln«.


Jeder von uns geht nochmal nach vorne.

Immerhin klart der Himmel auf und mit Regen ist für die zweite Nachtschicht nicht mehr zu rechnen. Wir lassen die Regenklamotten weiter an, weil das Thermometer auf bis zu vier Grad fällt. Zusammen mit dem Fahrtwind: Frostig!


Je weiter wir ostwärts kommen, umso schlechter werden die Straßen. Nach einer Nacht Schlafentzug wirkt die zweite Nacht schon leicht halluzinatorisch. Im Lichtschein unserer Lampen huscht der Patchwork-Asphalt schneller unter unseren Rädern durch, als wir überhaupt reagieren könnten. Die Gegend kommt uns vor wie verlassenes Niemandsland im deutsch-polnischen Grenzgebiet. Haben wir zu Anfang noch 20 Kilometer-Marken gefeiert, erfreuen wir uns jetzt an jeden zehn gefahrenen Kilometern. Der Hintern, die Hände, Nacken und Schultern schmerzen. Die Moral sinkt.


Für die letzten 40 Kilometer – als Einzelausfahrt den Aufwand nicht wert, die Radausrüstung anzulegen – muss man realistisch nochmal zwei Stunden Fahrtzeit rechnen. Das können wir uns nicht mehr vorstellen, weil wir eigentlich nicht mehr wollen. Jeder von uns geht noch einmal nach vorne und gibt ein schärferes Tempo an, dann sind die Tanks endgültig leer. Völlig stumpf treten wir in die Pedale. Und wie immer sind die letzten drei Kilometer geradezu lächerlich lang, hinter unzähligen Kurven versteckt sich das Ziel.


Zwanzig Minuten nach Mitternacht rollen wir in die Einfahrt des Campingplatzes, wo Dieter und sein kleines Team Spalier stehen und uns jubelnd begrüßen. Auf dem Campingplatz schieben wir die Rennräder durch den Startkanal aus Bad Hersfeld, der jetzt mit Beachflags als »Finish« gekennzeichnet ist. Nach etwas Smalltalk über die Strecke bekommen wir ein Finisher-Jersey und eine Medaille, werden zum offiziellen Photo vor die Finisher-Wand gebeten. Eine skurrile Ehrung, mitten in der Nacht, wir vor Kälte zitternd.


Da unsere Unterkunft in der polnischen Nachbarstadt von Görlitz – Zgorzelec – 16 Kilometer entfernt und erst ab Sonntagnachmittag gebucht ist, dürfen wir uns in der Rezeption des Campingplatzes ausbreiten. Der todesartig einsetzende Schlaf verzeiht sitzende oder gekrümmt liegende Positionen. Die ganze Nacht hindurch treffen weitere erschöpfte Pedaleure ein und sinken auf dem Boden augenblicklich in tiefen Schlaf.



ich fahre in die erste Nacht hinein








 
 
 

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